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Die Mittelländische Zeitung

KULTUR · 24. März 2021

„Neue Freunde“
DMZ – KULTUR ¦ Urs Heinz Aerni ¦

Die Mellingerin Edith Nielsen Saad-Moor legt ihren neuen Roman vor, der von Menschen erzählt, die alle in einem Haus leben. Sie gibt Auskunft über die Story bis zum Verschwinden des Hauses und warum die Figuren neue Freunde wurden.

Urs Heinz Aerni: Bei der Lektüre Ihres neuen Buches spürt man Ihre Lust am Erzählen aber auch die Kunst, nahe bei Figuren zu sein. Wie würden Sie für sich die Initialzündung für ein neues Buchprojekt beschreiben?

Edith Nielsen Saad-Moor: Plötzlich steht in meinem Kopf eine unbekannte Figur da, und bald gesellen sich andere dazu, völlig aus dem Nichts heraus. Die kann ich dann einfach machen lassen und muss nur aufschreiben, was denen so in den Sinn kommt. Das Hauptthema - gewissermassen die Botschaft der Story - mag mir schon lange im Kopf gelauert haben.

Aerni: Die zwischen zwei Buchdeckeln versammelten Protagonistinnen und Protagonisten ganz unterschiedler Couleur leben unter dem Dach eines altehrwürdigen Patrizierhauses. Warum nicht ein Wohnblock aus den 1970er Jahren?

Nielsen: Das schöne alte Haus zeigte sich sofort in geschmackvoller Architektur mit Mauern aus Natursteinen. Zudem brauchte es für den parkähnlichen Garten schon etwas Herrschaftliches. Auch mussten die Etagen über geräumige Zimmer verfügen. In einem Wohnblock wäre alles zu eng, da hätten sich meine Figuren nicht so bewegen können, wie ich es wollte.

Aerni: Dürfte man dieses Buch auch irgendwie als eine Appellation an ein besseres Zusammenleben generell in unserer Gesellschaft verstehen?

Nielsen: Ja, in jedem Fall. Genau das ist eines meiner Anliegen.

Aerni: Wie gelang es Ihnen, Ihr literarisches Personal echt und wirklich wirken zu lassen? Oder anders gefragt, wie gingen Sie vor bei der Charakterisierung der verschiedenen Persönlichkeiten?

Nielsen: Wie gesagt, die stehen im Geist vor mir und bringen sozusagen ihren Charakter mit. Da ich ihr ‚Wesen‘ kenne und mich in sie hinein denken kann, weiss ich auch, wie sie agieren sollen. Es kommt nie vor, dass ich am Federhalter kaue und studieren müsste, was ich sie machen lassen könnte.

Aerni: Ein wichtiger Moment ist der Stromausfall im ganzen Haus und die Reaktion der Menschen darin. Eine bewusste Analogie zu dem, was wir nun mit der Pandemie-Krise haben?

Nielsen: Das könnte passen. Jedoch das Manuskript war fertig lange bevor die Pandemie begann und blieb schubladisiert. Meine Absicht war, bewusst zu machen, wie schnell ein massiver Stromcrash geschehen könnte, bei dem wir auf jeder Ebene hilflos wären. Im Buch dauert der Stromausfall ja nur kurz, aber die eine oder andere Person macht sich dann schon Gedanken darüber, wie unbekümmert wir uns täglich in einem höchst fragilen Umfeld bewegen.

Aerni: Es ist leserlich gut spürbar, wie Sie mit Ihren Figuren handeln und mit ihnen mitdenken und mitfühlen. Das könnte ja noch lange so fortdauern. Wann wussten Sie, dass das Schreiben dieses Romans als „vollbracht“ bezeichnet werden konnte?

Nielsen: Ganz klar sollte das Buch enden mit dem Verschwinden des Hauses. Alles ist vergänglich! Doch als ich das Manuskript letzten Sommer wieder hervor zog, spürte ich, dass man als Leser vielleicht doch gerne wissen möchte, wie diese Menschen danach klar kommen konnten. Also entstand ein dritter Teil.

Aerni: Sie hantieren im Buch mit lyrischer und prosaischer Technik, auch phasenweise mit Brief-Sequenzen. Unter uns: Konnten Sie sich nicht für ein Genre entschließen?

Nielsen: Nein. Wieso sollte ich? Das geht nicht. Alles kommt von selbst...

Aerni: Das Haus verschwindet, was mit den Menschen weiter geschieht, lassen wir hier natürlich offen. Was hat das Verfassen dieses Buches denn mit Ihnen gemacht?

Nielsen: Erstens war es ebenso Freude am Fabulieren und die Möglichkeit, meine Anliegen einfliessen zu lassen, wie Spass am Recherchieren, denn Fakten und Zahlen, sowie weltliche Geschehnisse mussten stimmen! Zweitens habe ich jetzt auch neue Freunde: Die erfundenen Figuren bleiben nämlich munter um mich her, als könnte ich sie jederzeit besuchen.

Aerni: In einer schönen, und romantischen Szene beschreiben Sie, wie eine Melanie und ihr Freund Flipp ihre Fahrräder an einen Baum lehnten und beim Spazieren nah am Wasser den Schwalbenzug gegen Süden, einen fischholenden Eisvogel beobachten und ein Blässhuhn aufschrecken. Welche Rolle spielt denn die Natur für Sie?

Nielsen: Eine grosse Rolle. - Auch im Kleinen! Eine Hornissenkönigin, die kürzlich in meiner Stube jeden Winkel auskundschaftete und auf meine höfliche Bitte, sie möge gelegentlich den Weg durch das Fenster nehmen, schoss stattdessen auf mich zu und brummte mir mehrmals um den Kopf, um dann dicht vor meinem Gesicht wie ein Falke im Rüttelflug zu verharren, so dass wir uns zeitlos in die Augen sahen; solches macht mich ebenso glücklich, wie die Aussicht von einem Berg. Wie verwerflich wir allerdings mit der Natur umgehen, macht mich traurig. Auch weil ich mitschuldig bin.

Aerni: Zu guter Letzt noch eine Frage, zu den im Buch vorkommenden Gemütsstimmungen wie Ironie, oft auch Humor aber auch Melancholie. Was wäre Ihr Leben ohne das Schreiben?

Nielsen: Schwer zu sagen. Dann würde ich vermutlich malen, oder müsste in allen Tonarten jaulen, um meine Gefühle loszuwerden, und würde jedem der meinen Weg kreuzt unaufgefordert detaillierte Geschichten erzählen.

Das Buch: „Mehrfamilienhaus mit Garten“, Roman, mit Illustrationen, 257 Seiten, 978-3-033-08318-9, 2021

Edith Nielsen Saad-Moor, in Basel geboren, wuchs am Zürichsee auf und lebt seit vielen Jahren in Mellingen. In Neuenburg liess sie sich zur Buchhändlerin ausbilden, zog dann als Sekretärin mit dem Zirkus Knie durchs Land, arbeitete in einer Londoner Buchhandlung, für die Alpine Mittelschule Davos und bei der BBC Baden bis zur Heirat mit einem Mann aus Kopenhagen. Von Ihr sind schon verschiedene Bücher erschienen, u. a. „Sommer der Entscheidungen“ und „Simon und der rote Ballon“ (2017). Sie schrieb auch Kurzgeschichten, Kolumnen und Reportagen für Zeitschriften.


Wenn plötzlich ein Haus verschwindet

Foto: hhs

Die Mellingerin beschreibt in ihrem jüngsten Buch, wie Zusammenleben geht. Auf unterhaltsame Weise schildert sie das Leben in einem Mehrfamilienhaus. – Bis das Haus eines Tages verschwindet.

Niemand wohnt alleine in einem Haus mit mehreren Wohnungen. Auch nicht in «Mehrfamilienhaus mit Garten», in welchem Zusammenleben zwischen zwei Buchdeckeln erzählt wird. In ihrem inzwischen sechsten Buch beschreibt Edith Nielsen das Leben auf vier Etagen in einem alten Patrizierhaus mit grossem Garten. Dieses Haus, sagt die Frau, die selber in der Mellinger Altstadt wohnt, stehe in der Schweiz, irgendwo im Mittelland. Von der Wohnung im Dachgeschoss bis ins Atelier im sous-Sol erweckt die Autorin ihre Figuren zum Leben.

Die Figuren stehen plötzlich da Zum Beispiel Sophie Kern unter dem Dach, die sich auf ihrem Balkon nach fernen Kontinenten sehnt. Oder Carmela Buff, die im zweiten Stock versucht, das Krächzen ihres Aras mit dem Staubsauger zu übertönen. Und die Familie Wagner mit ihren Kindern Flipp und Charlotte im Parterre. – Toleranz und Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Offenheit stehen im Zentrum der Geschichte. Dabei werde nichts erklärt, sagt Nielsen. «So, wie sich meine Figuren verhalten, erleben die Leserin oder der Leser Freundschaft oder Toleranz.» Ruhig spricht die Frau im obersten Stock in der Mellinger Bibliothek, fragt nach, erklärt und antwortet immer wieder mit einem Lächeln. Sie blättert und verweist auf wichtige Stellen, auf den Aufbau ihrer «Unterhaltungsgeschichte mit Tiefgang», wie sie ihr Buch umschreibt. Dreiteilig ist es. Im ersten Teil werden die Personen vorgestellt, das Zusammenleben und die Gemeinschaft mit Witz geschildert. Zwar hat Edith Nielsen alle ihre Romanfiguren auf der ersten Seite ihres Buches aufgelistet und stellt sie auch gleich vor. «Damit sich die Lesenden einfacher zurecht finden», sagt sie. Sie selber aber brauche diese Liste nicht. «Die Figuren kommen zu mir, stehen plötzlich da» Und erhalten dann einen Platz in ihrer Geschichte – auch die vier Menschen aus Eritrea, die im Verlaufe des Buches im Mehrfamilienhaus einziehen. Nielsen nimmt sie mit, skizziert in ihrem Computer – bisweilen auch handschriftlich auf einem kleinen Notizblock – was ihre Figuren erleben, was sie bewegt oder, was ihr selber wichtig ist. So lässt sie etwa Carmela Buff sagen: «In den nächsten zwei, drei Jahrzehnten werden viel grössere Massen kommen; es könnten Abermillionen Menschen sein. Nicht über das Meer, sondern wegen dem Meer!» Es ist einer von vielen Sätzen, der auf aktuelle Probleme anspricht.

«Wir sind jetzt Flüchtlinge» Im zweiten Teil des Buches verschwindet urplötzlich das Haus. Wie und warum soll hier nicht verraten werden. Das ist Edith Nielsen wichtig. Wer sollte noch lesen wollen, wenn die Geschichte schon bekannt ist? Im Roman aber führt dieses Ereignis zu einer Whatsapp-Mitteilung zwischen zwei Hausbewohnern, von denen einer gerade Tausende Kilometer entfernt ist: «Wir stehen alle unter Schock! Und wir stehen buchstäblich vor dem Nichts. – Wir sind jetzt Flüchtlinge.» Jederzeit könne etwas eintreffen, sagt Nielsen, das an die Vergänglichkeit des Lebens erinnere. Nichts sei selbstverständlich. Auch darum geht es in ihrem Buch. Ohne Haus aber fehlt die Gemeinschaft. Den dritten Teil leitet Nielsen denn auch mit den Worten ein: «Falls es Sie interessiert, was aus den Bewohnern des verschwundenen Hauses geworden ist ... Ich weiss es nicht.» Dennoch lädt sie die Lesenden ein, in die Zukunft zu blicken. Fünfzehn Jahre später erzählen ihre Heldinnen und Helden vom Neuanfang. Nielsen sagt: «Vieles in meiner Erzählung beruht auf wahren Begebenheiten.» Zwar seien die Personen nicht real, manches Ereignis aber, das sie in «Mehrfamilienhaus mit Garten» beschreibe, habe sie selber erlebt.

Heidi Hess, Reussbote